Berlin Karlheinz Schäfer – Ein Wintermärchen
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde unseres Kunst- und Autographenhandels,
wir freuen uns, Sie und Ihre Begleitung zur Eröffnung der Ausstellung „Ein Wintermärchen“ von Karlheinz Schäfer am 10. Oktober 2025 um 18:00 Uhr in unsere Berliner Räumlichkeiten einzuladen. Die Eröffnungsrede hält Ulrike Kremeier, Direktorin des Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst (BLMK). Die Ausstellung ist zu sehen bis zum 31. Oktober 2025.
Die Räume des ältesten erhaltenen Wasserturms Berlins am Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg, dem „Dicken Hermann“, richtete sich Karlheinz Schäfer (*1941) zusammen mit seinem Künstlerkollegen Achim Freyer (*1934) als Künstlerateliers ein. Seit Stilllegung des Wasserturms 1952 bis zur Wiedervereinigung dienten die Keller als Lagerräume und die Wohnungen wurden, seit 1976 der umgebende Platz nach historischen Plänen aufbereitet war, zu Spottpreisen von einer DDR-Mark pro Quadratmeter vermietet. Ein perfekter Ort, um 1971 die Räume in der Form von Tortenstücken rund um die Eisenkonstruktion des Wasserbehälters mit einer Installation zu bespielen, die der systemkonformen Kunst des sozialistischen Realismus in jeder Hinsicht widersprach. Die 5 bis 8 Meter hohen Räume durchzog Schäfer mit einem Geflecht aus Perlonfäden, an denen er Eier und Kerzen montierte. Um diese ephemere Kunst zu dokumentieren, entwickelte er 1973 eine Serie von fünf Zeichnungen. Die aufgelegten Gegenstände der Installation wurden mit Silberfarbe auf großen Blättern übersprüht. Leerstellen und Umrisse ergaben sich, die sinnbildlich den Verlust der Atelierräume aufgrund der Räumung durch die Stasi 1972 wegen angeblicher baulicher Mängel aufzeigen.
Diese Serie beschreibt stellvertretend Karlheinz Schäfers künstlerische Verfahrensweise bei der Produktion seiner großformatigen Zeichnungen der 1970er Jahre. Ein Thema treibt ihn um, wird stufenweise seriell durchgespielt, enthält bisweilen nur noch dezente Verweise auf diesen Anfang und ist vor allem eines: keine Illustration oder reine Verbildlichung des Bezugspunktes, sondern Auseinandersetzung und Transfer in die Malerei bzw. Bildhauerei. Vielfach sind Hauptwerke bekannter Dichter und Literaten der Beginn einer zeichnerischen Serie. Dabei reicht die Spanne von Bibeltexten bis hin zur Moderne. Von Glas abgezogene Eitempera-Farbflecken in Verbindung mit Kreisen beziehen sich beispielsweise auf das Hohelied oder die Offenbarung des Johannes.
Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und „Atta Troll: Ein Sommernachtstraum“ nehmen zusammen mit Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ einen besonderen Stellenwert in Schäfers Werk dieser Zeit ein, verarbeiten sie doch die literarische Kritik an den bestehenden Regierungs- und Herrschaftssystemen ihrer Zeit und bilden zugleich ein historisches Spiegelbild für die erfahrenen Beschränkungen durch und ablehnende Haltung gegenüber der DDR-Ideologie für den Künstler. 1972 wurde Schäfer mit zeichnerischen Entwürfen für eine Skulptur im Heinrich-Heine-Viertel (heute Neanderviertel) in Berlin Mitte staatlich beauftragt. Der Auftrag fiel in eine Zeit politischer Umbrüche – an die Ablösung Walter Ulbrichts 1971 waren Erwartungen auf Veränderungen geknüpft – und Heine wurde durch seine Instrumentalisierung für die DDR-Ideologie zum hochpolitischen Dichter. Schäfers Entwürfe zeigen verschneite Hügel, umgeben von einer kreisrunden Betonmauer mit kleiner Öffnung, die von einer Kugel aus Aluminium versperrt wird, oder hohe Kerzen aus Beton über einem in den Boden eingelassenen Fundament. In manchem Rund steckt ein großer Keil versehen mit Eselsohren. „Andre Zeiten, andre Vögel! Andre Vögel, andre Lieder! Sie gefielen mir vielleicht, Wenn ich andre Ohren hätte!“ endet der Versepos Atta Troll, dessen Schilderung eines Tanzbärenlebens den Drang des Menschen nach Freiheit thematisiert. Musils Keil („als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat“ lautet die ausradierte Zeile am unteren Rand der Zeichnung) in Verbindung mit lauschenden Eselsohren, die an die Pickelhaube und damit das Kaiserreich erinnern sollen, eingepfercht in einer Mauerumrundung, besiegelten die Ablehnung des Entwurfes. Zahlreiche weitere Zeichnungen desselben Jahres nehmen bildliche Elemente dieser Entwürfe auf, sollen jedoch als eigenständig angesehen werden.
In einer Folge von 12 Faserstift-Zeichnungen spielt Karlheinz Schäfer 1975 mit der euklidischen Geometrie. Linien, Punkte, gezirkelte Kreise variieren mit freier Strichführung. Leerstellen, Fehlstellen, Schichtungen, Überlagerungen und bewusstes Ausrasieren des Papiers sind Kennzeichen, wie sie auch bei Schäfers Buchobjekten der 1970er Jahre auftreten. Die Zweidimensionalität wird umkreist und künstlerisch befragt, bekannte Systeme (hier geometrische, dort politische) werden hinterfragt. Auf dem Papier bleiben die Löchlein des Zirkels als Spur zurück und beim Künstler jene der Geschichte. Sein Blick geht nicht gen Westen, sondern gen Osten in Richtung der russischen Avantgarde, Kasimir Malewitsch und El Lisitzky sind seine Fixsterne. Lediglich Joseph Beuys entlockt ihm einen Blick über die Mauer: auf dessen 1964 während einer Aktion des Fluxus-Festivals in Aachen geäußerte Forderung, die Mauer sei zu niedrig und müsse um 5 cm erhöht werden, ersann Karlheinz Schäfer die Aufstellung der Buchstaben „Deutschland Ein Wintermärchen“ auf der Seite West-Berlins knapp hinter der Mauer und lediglich ein paar Zentimeter über diese hinausragend. Es blieb bei einem gedanklichen Exkurs.
„Texte gehören zur Bildhauerei und Musik zur Malerei“ sagt Karlheinz Schäfer. So wird klarer, dass sich der Künstler als Bildhauer versteht, als Bildhauer für die Zeichnung an die Papiere herantritt und nicht auf ihnen zeichnet oder malt. Sondern auf sie einwirkt, sie formt, mit Textilien und Papieren beklebt, mit Schnitten, schablonierten Umrissen und Löchern, mit Zeichen realer Gegenstände per Abklatsch oder Abdruck versieht, faltet und decollagiert. Bis zu seiner Übersiedelung nach West-Berlin 1987 waren sein Wirkungsradius und sein Zugang zu Materialien in der DDR begrenzt. Das große Blattformat bot sich ihm folglich als künstlerischer Handlungsspielraum an.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Irrgang Fine Arts-Team